Sexualisierte Gewalt innerhalb der Familie - Wieviel Realität sollte die Gesellschaft aus Sicht der Betroffenen ertragen können?

 

Ein Tabuthema - immer noch! 
Aufklärung? Ja, aber wieviel? Reicht die Bezeichnung, reicht es als betroffener Mensch bei der Therapie zu sitzen und allein zu sagen:      

"Ich bin sexuell missbraucht worden?"

Wieviel Deutlichkeit braucht ein Mensch, um das ausdrücken zu können, was er wirklich erlebt hat, um sich anerkannt, verstanden und gesehen zu fühlen?

Das Unaussprechliche aussprechen zu können und zu dürfen?
Wieviel Animation ist seitens der Helfer nötig?

 

In vielen Therapien wird aus Stabilisationsgründen - und das ist sicher auch in vielen Fällen zunächst sinnvoll - die Methode des "sicheren Ortes" angestrebt, um ein Leben im Heute aufzubauen. Was ist jedoch mit den Fällen, die nicht mehr verdrängen können, die aufgrund Ihrer Situation derart krank geworden sind, die unter Umständen seitens ihrer Täter noch verfolgt werden, rituellen Missbrauch erleben und gar kein anderes Leben kennen?

Für sie ist das was die Allgemeinheit mit großem Schock und Angst als Tabu von sich weisen möchte, qualvoller Alltag- wiederkehrend immer und immer wieder, schonungslos, hemmungslos - und bei Härtefällen zumeist von Kindesbeinen auf an über Jahre und Jahrzehnte!
 
Einen Therapieplatz zu finden ist, gerade wenn auch noch Täterkontakt besteht, nicht einfach - bis hin zur gefühlten Unmöglichkeit. Betroffene fühlen sich alleingelassen und stehen am Rande der Gesellschaft.

Sollte es aber nicht normal sein, gerade als Helfer und als Nicht-Betroffener die Stärke an den Tag legen zu können sich für sie zu öffnen, ihnen nicht aus eigenen Vorbehalten, Tabuisierung und Angst erneut ihre Chance das Unaussprechliche auszusprechen zu nehmen?

 

Es gibt sehr viele engagierte Therapeuten, Sozialarbeiter und Helfer, die diesen Kraftakt auf sich nehmen, mehr oder weniger wissend darum, dass sie sich natürlich zwischen das Opfer und dem Täter stellen. Dass hierbei das Gefühl der Bedrohung aufkommen kann ist nachvollziehbar, ist es doch von der Täterseite ein gängiges Mittel sein Opfer erneut mit Übergriffen oder Drohungen unter Druck zu setzen - und womöglich auch den Helfer.


Wie schnell landet der Betroffene dann auf die "Psychoschiene", wird abgestempelt und unter Umständen damit zu ewigen Schweigen verdammt. Die wenigsten Menschen lassen in ihrem Bewusstsein zu, dass die Täter, wenn sie nicht gestoppt werden, aus ihrer Sicht eine Art "Freifahrtschein" haben und ihr Opfer im schlimmsten Fall ihr Leben lang misshandeln und übergriffig werden. Schließlich funktioniert es ja schon so lang und sie haben ihr Opfer "im Griff". Der Opfer-Täter-Konflikt, die in frühkindlichen Tagen angelegten Automatismen, wie Hilflosigkeit, Scham- und Schuldgefühle, Abhängigkeiten sowie die bekannten und tief eingeschliffenen Konsequenzen im Unterbewusstsein des Opfers tun ihr Übriges. 


In diesen Verstrickungen gefangen und unfähig durch die Verdrängung, die ebenso über die Jahre und Jahrzehnte unfreiwillig regelrecht trainiert wurde, sieht der von diesem schrecklichen Schicksal heimgesuchte Mensch oft für sich allein keinen Ausweg. Er scheint innerlich daran zerbrochen, gibt auf und legt sich im Laufe der Zeit Überlebensstrategien zurecht, wozu auch ein gewisses "Arrangement" gehören kann, weil er sich, will er überleben, gezwungen sieht "mitzumachen", da die Hoffnung auf Hilfe oder einen Ausweg zerstört wurde. Ein Teufelskreis! 

Natürlich ist es als Aussenstehender nicht einfach zu helfen, wenn man neben den eigenen Ängsten gegen die Widerstände der Täter, die in ihr Opfer "eingepflanzt" wurden, ankämpfen muss. Der langjährige sexuelle Missbrauch und die Gewalt fordern in der Seele, im Körper und im Geist des Menschen natürlich seinen Tribut. Das Bewusstsein der Betroffenen hierfür schient oft nicht mehr vorhanden, da sämtliche Schwächen und Schmerzen nicht selten ausgeblendet werden, um sich selbst gegenüber das Gefühl der Stärke aufrecht zu erhalten.  

Wie soll man dies nun auflösen, wenn das Opfer voll oder auch nur teilweise in der Verdrängung feststeckt? Anzumerken ist hier, dass es nicht um die bildlichen Geschehnisse allein geht, sondern vielmehr um die Gefühlswelt, da hier der Schlüssel liegt.

Sicher durch gute Therapie ist sehr viel möglich, jedoch reicht sie aus, um ein auch für diese Härtefälle ein Gefühl der Sicherheit und im Zweifel auch Abwehrbereitschaft zu erlangen? Denn die ist in solchen Fällen unbedingt erforderlich, da erfahrungsgemäß die Täter hier keine Ruhe geben werden. 

Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass es für mich extrem wichtig war, dass ich auf eine selbstverständlich einfühlsame, aber auch konsequente Weise mit meinen wahren Gefühlen konfrontiert werden musste, es musste erlebbar sein, um zu begreifen, um ein wirkliches tiefes Verständnis in mir zu erreichen, damit ich tatsächlich realisieren konnte, dass ich nicht mehr wie ein hilfloses Kleinkind schockiert reagieren muss, wenn sich Erlebnisse in mein Bewusstsein drängten oder aber auch, wenn im Ernstfall ein Täter vor mir stehen würde. Ich konnte endlich Abwehrmechanismen erlernen und deutliche innere Grenzen ziehen. So war also die Realität notwendig und Verdrängung absolut kontraproduktiv, wollte ich ein zukünftiges freies und sicheres Leben führen.

 

Zugegeben ein harter und schwerer Weg, jedoch auch der Weg der Befreiung. Weitere Verdrängung wäre mein Verhängnis geworden und ich wäre heute wohl weiterhin in den Fängen der Missbrauchswelten. 
Ich bin dankbar für die, die den Mut hatten mir bei dieser Gefühlsarbeit konfrontativ zu helfen, als alle anderen rieten es an einen sicheren Ort abzulegen, wiederholten sich in meinem Alltag doch ohnehin alle alten missbräuchlichen Verhaltensweisen.

 

Aus meinem Erleben habe ich also feststellen dürfen, dass es auch für die, die nicht mehr verdrängen können wichtig ist adäquate Hilfe und Unterstützung zu haben. Menschen, die die Kraft und den Mut haben sich trotz der Täterbedrohung dazwischen zu stellen und die aus Selbstbetroffenheit mir den Weg zeigen konnten, mich nicht durch die eigene Verdrängung unterdrückten und mich damit auch auf eine Art retraumatisiert hätten.

Es gibt also zwei Seiten der Medaille und es kann nicht pauschal gesagt werden ein von sexuellem Missbrauch und Gewalt betroffener Mensch muss "geschont" werden. Nein, er muss schonend aufgeweckt werden, um durch die Realität in sich seine enorme Stärke erkennen zu können, dass er dieses Grauen überlebt hat und dennoch nicht die Hoffnung verloren hat und sich Hilfe sucht.

 

Ein Mensch, der den Tätern durch seinen inneren Tabubruch endgültig durch sein Bewusstsein die Macht nimmt, das Unaussprechliche ausspricht, zu sich und seinem Schicksal steht und anderen dabei helfen kann ebenso ihr Schweigen zu brechen, den Mut zu beweisen sich mit anderen zusammenzuschließen, damit sich in unserer Gesellschaft durch auferstandene Opfer sichtbar zeigt, dass es sehr wohl machbar ist ein wirkliches Leben nach dem Missbrauch führen zu können und dem Teufelskreis des Missbrauchs ein Ende zu setzen.

Ein Leben aus dem wahre Stärke, Mut, Liebe und Hoffnung hervorgeht, als ein Mensch, der sich durch nichts mehr erschüttern läßt und jedem Täter die Macht nimmt in dem er ihm das sieht was er in Wahrheit ist: ein ebenso traumarisiertes Kind, was nach wie vor gefangen ist im Teufelskreis des Missbrauchs und es als Erwachsener nicht geschafft hat der Mutation ein Ende zu setzen.


So erhebt sich der Mensch, der zuvor Opfer war über die Täter der Welt und ist innerlich frei.  

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Kommentare: 3
  • #1

    Beatrice Lührig (Montag, 21 August 2017 08:41)

    Ja, es muss ausgesprochen und benannt werden. Nur durch den Tabubruch kann die Seele wier ganz werden. Auch ich habe das Schweigen mit allen Konsequenzen gebrochen. Meine Familie ist eingeknickt. Sie hat es nicht ertragen. Dabei war es die Lösung. Und ich bin überzeugt, es wäre für alle besser gewesen, wenn auch sie aufgehört hätten, zu schweigen. Stattdessen wurde ich verbannt und es ist auch gut so. Dennoch zeigt die Reaktion meiner Familie, wie weit der Weg bis zum Tabubruch wirklich noch ist.

    Herzlichst
    Beatrice Lührig

  • #2

    Anne Hähngen (Montag, 21 August 2017 10:35)

    Leider sind Therapeuten sehr selten dazu bereit, sich dem vollständig zu öffnen, so das wir als Opfer verarbeiten können. Bei mir hat es sehr lange gedauert, bis ich die richtige Therapeutin dafür gefunden habe. Trotz das alle davor auch Traumatherapeuten waren, waren sie dazu nicht bereit. Aber nur DAS hat mir geholfen! Ich musste es erzählen....manche Details auch, musste erfahren, das mir gesagt wurde: das ist furchtbar was mit dir gemacht wurde! Du hast keine Schuld! Verdrängung ist eine Zeit lang ok.....aber wenn man wirklich wieder LEBEN möchte, muss man ins Eingemachte! Es ist nicht leicht - aber wenn man danach innere Freiheit bekommt, lohnt es sich, diesen Weg zu gehen! Ich würde es immer wieder so machen!

  • #3

    Luise Kakadu (Samstag, 26 August 2017 06:49)

    Lieber Phoenix,
    oft schon hatte ich gedacht, dass diese Aufforderung zum Verbergen an "sicherem Ort" letztendlich nur neuerlicher Mißbrauch ist.
    Weil diese "Hilfe" keine Hilfe für die Opfer ist, sondern für all die Wegseher und Verleugner.
    Weil das Verstecken lediglich diesen hilft, auch weiter wegsehen zu KÖNNEN.
    Und ein lautes Hinausbrüllen allen Leides und aller Gewalt die Menschen zwingen würde, dort hin zu sehen, wo sie SELBST Gewalt verüben - oder auch auf die von ihnen SELBST erlittene Gewalt, welche sie zu verdrängen suchen.
    Und weil das Hinsehen HILFE erfordern würde - was in unserer kommerzialen Welt aber doch lieber eingespart würde.

    Ein lautes Brüllen verhindert die Verdrängung und zwingt zur SELBSTreflektion, welche blinde Menschen zu vermeiden suchen.
    Auch ich brülle.
    Ich bin auf dem Weg - doch längst nicht am Ziel.
    Immerhin - so langsam wachsen meinem gerupften Vogel erste Federn...
    Liebe Grüße, Luise